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Sozialversicherungsrecht / Sozialversicherung

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Witwe bzw. Witwer haben bei mehrfacher Wiederverheiratung kein Anrecht auf Rente

Datum:
20.07.2021
Rubrik:
Gerichtsentscheide / Rechtsprechung
Rechtsgebiet:
Sozialversicherungsrecht
Autor:
LawMedia Redaktion
Verlag:
LAWMEDIA AG

AHVG 23 Abs. 4 lit. a und Abs. 5

Einleitung

Im Streitfall zwischen der Ausgleichskasse des Kantons Aargau und der Beschwerdegegnerin mit der Geschäftsnummer 9C_763/2020 stellte sich die Frage, ob eine Witwe auf eine Rente hat und zwar auch nach mehrfach erneuter Heirat.

Die Anfechtung des vorinstanzlichen Entscheids motivierte aber das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) (Beschwerdeführerin)

Sachverhalt

  • Die Beschwerdegegnerin A.________ verwitwete am 02.08.1994.
  • Danach war sie ein zweites (vom 22.01.2003 bis zur Scheidungam 11.09.2008) und ein drittes Mal (vom 11.12.2009 bis zur Scheidung am 17.08.2019) verheiratet.
  • Ab 01.09.1994 hatte sie Anspruch auf eine Witwenrente der Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV), welcher mit der Wiederverheiratung erlosch (vgl. AHVG 23 Abs. 4 lit. a).

Prozess-History

  • Ausgleichskasse des Kantons Aargau
    • ________ meldete sich im September 2019 erneut zum Bezug einer Witwenrente an.
    • Die Ausgleichskasse des Kantons Aargau lehnte mit Verfügung vom 11.10.2019, bestätigt mit Einspracheentscheid vom 01.05.2020, den Anspruch ab.
  • Versicherungsgericht des Kantons Aarau
    • ________ liess beschwerdeweise beantragen, es sei ihr mit Wirkung ab 01.09.2019 eine AHV-Witwenrente zuzusprechen.
    • Das Versicherungsgericht des Kantons Aargau hiess die Beschwerde mit Urteil vom 03.11.2020 gut, hob den Einspracheentscheid vom 01.05.2020 auf und stellte fest, dass A.________ ab 01.09.2019 Anspruch auf eine AHV-Witwenrente habe.
  • Bundesgericht
    • Das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) erhob dagegen Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem Rechtsbegehren, das kantonale Urteil sei aufzuheben und es sei der Einspracheentscheid vom 01.05.2020 zu bestätigen.
    • ________ liess die Abweisung der Beschwerde beantragen.
    • Die Ausgleichskasse schloss auf deren Gutheissung.

Erwägungen

Das Bundesgericht (BGer) nahm eine Auslegung von AHVG 23. Abs. 4 lit. a vor. Danach musste es festhalten, dass das grammatikalische und das systematische Auslegungselement nichts ergaben, während das historische und das teleologische Element zum Ergebnis führten, dass der Anspruch auf eine Witwen- oder Witwerrente, der zufolge Wiederverheiratung erloschen war und, dass gestützt auf AHVG 23 Abs. 5 nur nach Auflösung der zweiten Ehe durch Scheidung oder Ungültigerklärung wieder aufleben könne. – Würden danach weitere Ehen eingegangen (d.h. eine dritte, vierte etc. Ehe) und später geschieden oder als ungültig erklärt, sei ein Wiederaufleben ausgeschlossen.

Angesichts des vorstehenden Auslegungsergebnisses lebte der Anspruch der Beschwerdegegnerin auf eine Witwenrente nach der Scheidung ihrer dritten Ehe nicht wieder auf (vgl. AHVG 23 Abs. 5).

Bei dieser Sachlage hatte die Vorinstanz die Ausgleichskasse zu Unrecht verpflichtet, der Beschwerdegegnerin rückwirkend ab 01.09.2019 erneut eine Witwenrente auszurichten.

Das angefochtene Urteil war daher aufzuheben und die Beschwerde des BSV gutzuheissen.

Entscheid

  1. Die Beschwerde wurde gutgeheissen. Das Urteil des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 03.11.2020 wurde aufgehoben und der Einspracheentscheid der Ausgleichskasse des Kantons Aargau vom 01.05.2020 bestätigt.
  2. Der Beschwerdegegnerin wurde die unentgeltliche Rechtspflege gewährt und Rechtsanwalt Dr. Volker Pribnow wurde als unentgeltlicher Anwalt bestellt.
  3. Die Gerichtskosten von CHF 500.- wurden der Beschwerdegegnerin auferlegt, indes vorläufig auf die Bundesgerichtskasse genommen.
  4. Dem Rechtsvertreter der Beschwerdegegnerin wird aus der Bundesgerichtskasse eine Entschädigung von CHF 2’800.- ausgerichtet.
  5. Die Sache wurde zur Beurteilung des Gesuches um unentgeltliche Verbeiständung im vorinstanzlichen Verfahren an das Versicherungsgericht des Kantons Aargau zurückgewiesen.
  6. (Mitteilungen)

Quelle

BGer 9C_763/2020 vom 02.07.2021 = BGE 147 V 297 ff.

Art. 23120 Witwen- und Witwerrente

1 Anspruch auf eine Witwen- oder Witwerrente haben Witwen oder Witwer, sofern sie im Zeitpunkt der Verwitwung Kinder haben.

2 Kindern von Witwen oder Witwern sind gleichgestellt:

  1. Kinder des verstorbenen Ehegatten, die im Zeitpunkt der Verwitwung mit der Witwe oder dem Witwer im gemeinsamen Haushalt leben und von ihr oder ihm als Pflegekinder im Sinne von Artikel 25 Absatz 3 aufgenommen werden;
  2. Pflegekinder im Sinne von Artikel 25 Absatz 3, die im Zeitpunkt der Verwit­wung mit der Witwe oder dem Witwer im gemeinsamen Haushalt leben und von ihr oder ihm adoptiert werden.

3 Der Anspruch auf die Witwen- oder Witwerrente entsteht am ersten Tag des dem Tod des Ehemannes oder der Ehefrau folgenden Monats, im Falle der Adoption eines Pflegekindes gemäss Absatz 2 Buchstabe b am ersten Tag des der Adoption fol­genden Monats.

4 Der Anspruch erlischt:

  1. mit der Wiederverheiratung;
  2. mit dem Tode der Witwe oder des Witwers.
5 Der Anspruch lebt auf, wenn die neue Ehe geschieden oder ungültig erklärt wird. Der Bundesrat regelt die Einzelheiten.

120 Siehe auch die SchlB Änd. 7. Okt. 1994 am Ende dieses Textes.

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