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Bundesgericht: «Stealthing» fällt nicht unter den Tatbestand der «Schändung»

Datum:
10.06.2022
Rubrik:
Gerichtsentscheide / Rechtsprechung
Rechtsgebiet:
Strafrecht
Stichworte:
Bundesgericht, Geschlechtsverkehr, Schändung, Sexualstrafrecht, sexuelle Belästigung, Stealthing
Autor:
LawMedia Redaktion
Verlag:
LAWMEDIA AG

Teilrückweisung an die Vorinstanzen zur Prüfung, ob eine sexuelle Belästigung vorliegt

Das heimliche und vereinbarungswidrige Entfernen des Kondoms während des Geschlechtsverkehrs («Stealthing») kann laut Bundesgericht (BGer) unter geltendem Recht nicht als «Schändung» bestraft werden.

Das BGer bestätigt in diesem Punkt zwei Urteile aus den Kantonen Zürich und Basel-Landschaft.

Die Beschwerden der beiden Staatsanwaltschaften in Strafsachen ans BGer wurden dennoch teilweise gutgeheissen, die Urteile aufgehoben und die Sache zur ergänzenden Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen. Die Vorinstanzen werden ergänzend prüfen müssen, ob eine sexuelle Belästigung vorliegt.

Nicht zu prüfen hatte das BGer die beiden Fälle unter dem Aspekt einer Krankheitsübertragung.

 

Aus der Medienmitteilung des Bundesgerichtes vom 09.06.2022

„Im Zürcher Fall soll der angeschuldigte Mann nach Beginn des Geschlechtsverkehrs ohne Wissen der Sexualpartnerin und entgegen vorgängiger Vereinbarung das Kondom entfernt und den Verkehr fortgesetzt haben. Er wurde für dieses als «Stealthing» be[1]zeichnete Verhalten wegen Schändung angeklagt. Das Obergericht des Kantons Zürich bestätigte 2019 den erstinstanzlichen Freispruch des Bezirksgerichts Bülach. Im zweiten Fall wurde der angeschuldigte Mann vom Kantonsgericht des Kantons Basel-Landschaft 2019 vom Vorwurf der Schändung ebenfalls freigesprochen.

Das Bundesgericht weist die Beschwerden der kantonalen Staatsanwaltschaften ab, soweit sie sich gegen den Freispruch vom Vorwurf der Schändung richteten. Es heisst die Beschwerden insoweit gut, als in beiden Fällen von den Vorinstanzen ergänzend zu prüfen sein wird, ob eine sexuelle Belästigung vorliegt. Den Tatbestand der Schändung erfüllt, wer eine urteilsunfähige oder eine zum Widerstand unfähige Person in Kenntnis ihres Zustandes zum Beischlaf, zu einer beischlafsähnlichen oder einer anderen sexuellen Handlung missbraucht. Fest steht, dass «Stealthing» grundsätzlich den Schutzbereich der fraglichen Norm tangiert, nämlich die sexuelle Selbstbestimmung. Für die betroffene Person kann ihre Ablehnung von ungeschütztem Verkehr eine erhebliche Bedingung für den Sexualkontakt darstellen. Durch die heimliche Missachtung dieser Bedingung wird ihr die Möglichkeit genommen, den Sexualkontakt selbstbestimmt und eigenverantwortlich zu gestalten. Mit dem Entfernen des Kondoms endet der bisher einvernehmliche Geschlechtsverkehr und beginnt eine gesonderte, neue sexuelle Handlung im Sinne des Tatbestandes der Schändung.

Nicht erfüllt ist bei «Stealthing» hingegen das für eine Schändung ebenfalls erforderliche Tatbestandsmerkmal der «Widerstandsunfähigkeit» des Opfers. Kennzeichnend für die Widerstandsunfähigkeit ist eine Wehrlosigkeit, die aus einer dauerhaften Eigenschaft (z.B. einer geistigen Behinderung) resultieren kann oder aus einer vorübergehenden Beeinträchtigung (z.B. Rausch, Schlaf). Die fehlende Abwehrfähigkeit, beziehungsweise der zugrunde liegende Schwächezustand muss unabhängig von den konkreten Umständen des Sexualkontakts bestehen. Keine Schändung liegt deshalb gemäss Rechtsprechung vor, wenn eine Person allein aufgrund des Überraschungseffekts nicht reagieren kann. So wurde etwa ein Täter, der zwei Frauen im Schwimmbad unvermittelt im Intimbereich angefasst hatte, nicht wegen Schändung verurteilt. Das «Stealthing» genannte Verhalten im Speziellen charakterisiert sich dadurch, dass die getäuschte Person irrtümlich davon ausgeht, dass der Geschlechtsverkehr weiterhin geschützt verlaufe. Der betroffenen Person wird zwar die Gelegenheit genommen, abwehrend zu reagieren, ihre Fähigkeit zur Abwehr als solche bleibt aber intakt. Damit vergleichbare Konstellationen hat das Bundesgericht in der Vergangenheit nicht als Schwächezustand im Sinne einer Widerstandsunfähigkeit gemäss dem Tatbestand der Schändung beurteilt.

Die laufende Revision des Sexualstrafrechts spricht ebenfalls dagegen, «Stealthing» unter geltendem Recht als Schändung zu beurteilen; dabei ginge es nicht bloss um eine Auslegung der vom Gesetzgeber formulierten Strafnorm, sondern um eine Erweiterung des heutigen strafrechtlichen Schutzumfangs. Gemäss dem Vorschlag der Kommission für Rechtsfragen des Ständerates sollen überraschend vorgenommene sexuelle Handlungen ebenso wie «Stealthing»-Konstellationen künftig unter die neuen Grundtatbestände «sexueller Übergriff» beziehungsweise «Vergewaltigung» fallen.

Die völkerrechtlichen Verpflichtungen der Schweiz (Europäische Menschenrechtskonvention und Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt, «Istanbul-Konvention») können zwar die Auslegung von geltendem Recht beeinflussen; die völkerrechtliche Auslegung darf aber nicht so weit gehen, allfällige «Strafbarkeitslücken» zu schliessen.

Hinzuweisen ist letztlich darauf, dass das heimliche Abstreifen eines Kondoms unter dem Aspekt der Übertragung einer Krankheit – unabhängig davon, dass «Stealthing» keine Schändung darstellt – je nach den Umständen als (versuchte) Körperverletzung bestraft werden könnte. Auch der Tatbestand des Verbreitens menschlicher Krankheiten könnte in Frage kommen. Diesen Aspekt hatte das Bundesgericht in den beiden aktuellen Entscheiden nicht zu beurteilen.“

Urteile des Bundesgerichts vom 11.05.2022 (6B_34/2020 / 6B_265/2020)

Quelle

LawMedia Redaktionsteam

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